Am 15. November waren die Kommunalwahlen in 5.500 brasilianischen Gemeinden. 148 Mio Brasilianer waren zur Wahl gerufen. 48% Männer- & 52% Frauenanteil – aber nur bei den `Republikanern` und der Partei der Brasilianischen Frau ist der Mitgliederanteil der Frauen höher als beim Rest. Es gab 556.033 Kandidaten. 36 Parteien sind zugelassen. 16,4 Mio sind in den Parteien eingeschrieben (11% der Wähler). Es wird hauptsächlich elektronisch gewählt. Unter den Pandemie-Bedingungen sind die Hygienevorschriften im Wahllokal gut umgesetzt. Von 7 – 10 Uhr waren es über 60jährige und Risikogruppen, die wählen dürften, um Gefahren zu minimieren. Fast alle Wahlhelfer waren mit Gesichtsschutz & Handschuhen ausgestattet. Viele Wahllokale hatten Desinfektionsmittel & Maskenpflicht.
Die Wahlen gelten als „Stimmungstest“ für die Entwicklung des Klassenbewusstseins, der Organisiertheit der Arbeiterklasse und des Volkswiderstandes – im Kampf gegen die faschistoide Bolsonaro-Regierung und die Corona-Pandemie. Dies alles ist aber nur relativ: da die Stimmenthaltung und Nichtwahl zunahm: 2016 waren es 27 % Nichtwähler und 2020 über 30%. Die Weiss-Taste (Enthaltung/“Neutral“) betätigten fast 4 Mio und die Null-Taste (Ungültig/“Protest“) über 7 Mio. Das kann man so deuten, daß 5-10% der Wähler mit dem System „unzufrieden“ sind. Die Differenz zu den 30% sind dann Leute, die zur Wahl gingen, aber nicht abstimmten, sich lediglich „registrieren“ ließen. Denn: um z.B. ein Ausweisdokument zu beantragen, oder eine staatliche Leistung, muss man bei den Behörden einen gültige „Wahlkarte“ vorweisen.
Es zeigt sich ein widersprüchliches Bild: die faschistischen, rassistischen und militaristischen Kräfte verloren z.T. deutlich an Stimmen. Die von Präsident Bolsonaro unterstützten Kandidaten wurden oft nicht gewählt. Diverse Verbündete Bolsonaros wechselten die Partei oder die Wahlempfehlung. Gewachsen ist der Stimmenanteil der bürgerlichen Konservativen (inkl. Evangelikale), des sogenannten parlamentarischen „Zentrums“ und Neoliberalen. Die bürgerlichen/kleinbürgerlichen Linken verloren; in einigen Städten (mit neuen „Gesichtern“) konnten sie auch Stimmengewinne erzielen. 80% der Kandidaten gehören zur bürgerlichen Oberschicht oder den kleinbürgerlichen Zwischenschichten an (sieht man an Spendenbudgets der Kandidaten).
Nur die PSOL (trotzkistischer Einfluss), als kleinbürgerlich und links-sozialdemokratisch orientierte Partei, konnte landesweit zulegen. Sie engagiert sich für Arme, Wohnungslose, sowie Minderheiten (in urbanen Zentren). Auch die Grüne-Partei legte zu. Die sozialdemokratische PT, von Ex-Präsident Lula, verlor massiv Stimmen. Auch, weil sie noch immer nicht selbstkritisch ihre Regierungszeit/Korruption aufarbeiteten, oft den Führungsanspruch gegenüber „Linken“ (z.B. mit der CUT) haben und Bündnisse auf Augenhöhe ablehnen und nichts gegen die Spaltung der Arbeiterbewegung taten. Auch die Abholzung des Regenwaldes, die Berufung von Militärs in die Politik, die Unterordnung unter Agrarlobby & Finanzkapital, wird der PT angelastet. Die PT sieht sich in der „Opferrolle“!
In der größten Stadt des Landes – Sao Paulo -, zog der Spitzenkandidat der PSOL – Boulos -, in die Stichwahl ein. Interessant: in Rio de Janeiro wurde die Witwe der ermordeten Marielle Franco (PSOL) – Monica Benicio -, von dieser Partei in den Gemeinderat gewählt, dem auch der Präsidentensohn Carlos Bolsonaro (`Republikaner`) angehören wird. Es bleibt spannend: denn der Mord ist immer noch nicht aufgeklärt. Der Bolsonaro-Clan wird beschuldigt, mit Hilfe der Verbrecher-Syndikate von Rio und deren Todesschwadronen, den Mord in Auftrag gegeben zu haben. Marielle Franco setzte sich für die Rechte der armen Favela-Bewohner ein und kam dabei den Immobilien- und Bodenspekulanten des organisierten Verbrechens und deren politischen Nutznießer in die Quere.
Die Arbeiter-, Gewerkschafts-, Frauen-, Jugend- und Umweltbewegung entwickelt sich weiter: z.B. antifaschistische Fußball-Fanclubs protestierten gegen Bolsonaro, antifaschistische Schüler- und Studentengruppen haben Zulauf, feministischen Frauen organisieren Proteste, es gibt antifaschistische Polizisten und z.B. die protestierenden „Moto-Boys“ in Sao Paulo sind ebenfalls gut präsent. Diverse Proteste, Arbeiterkämpfe und Streiks nahmen vor der Wahl zu und entwickeln sich weiter: der Kampf der Automobil-Kollegen bei Nissan, VW oder Fiat/Scania. Innerhalb der Gewerkschaftsbasis entwickelt sich eine Kritik an der Spaltung der 8 Gewerkschaftszentralen und dem Stil „jeder kämpft um sein Werk“. Verschiedene Belegschaften bei der Bundespost, Banken, Nahverkehrsbetrieben, der staatlichen Petrobras, Energieversorgern … kämpfen gegen Privatisierung, gegen Betriebsrenten- und Lohnkürzungen, sowie Unterbeschäftigung/Kurzarbeit. Die Proteste gegen die Rentenkürzungen gehen auch weiter.
Bolsonaro versprach vor 2 Monaten eine „Corona-Hilfe“ von 600 Real für alle. Nun kündigte er kurz vor der Wahl an, diese um die Hälfte zu kürzen und zu strecken. Das hat der Regierung auch viele Stimmen gekostet!
Die steigender Arbeitslosigkeit und die Auswirkungen der Pandemie auf das Leben der arbeitenden Massen sind mit der Quote von 46% „informell“ Beschäftigten oder „in Kurzarbeit“ nur unzureichend erfasst. Millionen sind an CoVid-19 erkrankt. Hunderttausende gestorben. In vielen Familien kommt zur Arbeitslosigkeit, die soziale Isolation und bei CoVid-19-Erkrankung, die Probleme mit der Gesundheitsversorgung und teurer Medikamente dazu. Auch viele Schulen und Unis sind geschlossen.
Der Protest der Beschäftigten verschiedener Gesundheitssektoren gegen Privatisierung des staatlichen Gesundheitsdienstes SUS, der Krankenhäuser, der Rettungsdienste … geht weiter.
Die Umweltbewegung organisiert sich besser, stellt sich breiter auf, so wenn sich z.B. die Landlosenbewegung MST mit den Opfern von Bergbau-Monopolen und deren Umweltverbrechen verbünden, Lebensmittel und Medizin spenden. Bergbau-Konzerne wie Vale wollen ihre „Entschädigungsmaßnahmen“ nicht mehr leisten … Nachdem der Amazonas das ganze Jahr brennt und nun auch das Pantanal, mehren sich die Proteste gegen die Verbrechen der Agrar- und Bergbaumonopole. Die Verbindungen der Umweltzerstörung zu den Pandemien (Corona, Zika, Gelbfieber) und Missbildungen bei Kindern (toxische Agrargifte) sind alarmierend!
Gleichzeitig wir die Idee der Landreform weiter verbreitet. Der Ökologische Landbau stößt auf immer mehr Interesse. Das betrifft auch die Hygiene-Erziehung gegen die Mückenplagen und durch sie übertragene Krankheiten. So betrifft die Privatisierung der örtlichen Abwasser- und Kläranlagen, der Stromversorgung und ihre mangelnde Instandsetzung (wegen Korruption) oft die Bevölkerung direkt – wie man an der Katastrophe im Bundesstaat AMAPA sehen kann, wo mehrere Tage Strom und Wasser fehlte. Hier wurde die Kommunalwahl deshalb komplett verschoben!
Äußere Einflüsse spielen in die Wahl rein: Wahlniederlage Trumps, Massenproteste in Chile und Peru, Wahl in Bolivien, Nichtratifizierung des EU-Mercosul-Abkommens wegen der Regenwald-Abholzung. Aber die inneren Widersprüche entscheiden: bei der Wahl haben sich revolutionär nennende Parteien nur 0,01-0,03% der Stimmen bekommen. Die neo-revisionistische PCdoB konnte zwar in einige Städten dazugewinnen, wurde aber ebenso wie die PT abgestraft. Die Idee des echten Sozialismus, einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung gewinnt Zulauf (v.a. unter Jugendlichen). Obwohl es viele sich kommunistisch oder sozialistisch nennende Organisationen gibt, orientierten einige auf die Wahl der PSOL …
Fazit der Wahl: die offene politische Krise setzt sich fort und löst die gesellschaftliche Polarisierung in Richtung eines antifaschistisch-demokratischen Bewußtseins auf. Im Kern müssen sich die Arbeiter ihre führende Rolle aber noch erkämpfen und ihre Organisiertheit & Bewußtheit erhöhen. Im Kampf gegen die kleinbürgerliche These vom „unterentwickeltem“ Brasilien und der „schwindenden“ Rolle der Arbeiterklasse (verbunden mit massivem Antikommunismus). Eine erster Schritt wäre die Höherentwicklung der Zusammenarbeit der 8 unterschiedlichen Gewerkschaftszentralen – ausgehend von der Basis – im Kampf gegen alle Krisenfolgen im neuimperialistischen Brasilien. Und dabei die internationale Solidarität und Zusammenarbeit zu stärken! Olha só: www.iawc.info